Angesichts des dramatischen Pflegenotstands fordert Gesundheitsminister Daniel Bahr
eine deutliche Lockerung der Zuwanderungsregeln für ausländische
Pflegekräfte. "Wir brauchen Zuwanderung, auch wenn das allein die
Probleme in der Pflege nicht lösen wird", sagte Bahr im Gespräch mit der
"Welt". "Bei den Medizinern haben wir erreicht, dass die Zuwanderung
deutlich erleichtert wird", erklärt der FDP-Politiker. In der Pflege
habe die Union das abgelehnt. "Die Hürden sind immer noch zu hoch",
kritisiert Bahr.
Im Sommer 2011
hatte die Bundesregierung die Grenzen für Ärzte und Ingenieure aus
Staaten außerhalb der Europäischen Union (EU) geöffnet und die
sogenannte Vorrangprüfung abgeschafft. Die Arbeitsagenturen prüfen
dabei, ob die Stelle nicht mit einem Deutschen oder EU-Ausländer besetzt
werden kann, bevor sie ihre Zustimmung zur Arbeitsgenehmigung geben.
"Die Vorrangprüfung für Pflegekräfte muss fallen", fordert Bahr jetzt.
Zahl Pflegebedürftiger bis 2030 verdoppelt
Aktuell gibt es
rund 10.000 unbesetzte Stellen allein in der Altenpflege. Nach den
Worten von Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) ist die
Nachfrage nach Fachkräften in der Pflege "riesengroß". Sie hatte im März
ein Abkommen mit den Philippinen unterzeichnet, um Pflegekräfte aus dem
ostasiatischen Land nach Deutschland holen zu können. Ähnliche Abkommen
gibt es mit Serbien und Kroatien.
Bahr sieht den
Vertrag mit den Philippinen als beispielhaft, aber das reiche nicht.
Nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung wird sich die Zahl der
Pflegebedürftigen in der Bundesrepublik bis zum Jahr 2030 auf 3,4
Millionen verdoppeln. Eine halbe Million Pflegekräfte könnten dann
fehlen, warnt die Stiftung. Nach Berechnungen der
Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di fehlen schon jetzt 162.000
Vollzeitstellen in deutschen Krankenhäusern.
Minister Bahr
verweist auf das Notfallpaket von mehr als einer Milliarde Euro, das das
Kabinett in der vergangenen Woche für die Kliniken beschlossen hatte.
"Ich erwarte, dass die Krankenhäuser zusätzliche Pflegestellen
schaffen", sagte der Minister.
"Das bekommen Sie am Fließband nicht"
In der Union und
in der Opposition hatte es Forderungen gegeben, Pflegekräfte künftig
besser zu bezahlen, um die Attraktivität des Berufes zu steigern. Bahr
verweist darauf, dass für die Höhe der Löhne Arbeitgeber und
Arbeitnehmer verantwortlich seien. Das könne aber "noch besser werden",
fügte er hinzu. In einer alternden Bevölkerung werde es mehr Nachfrage
nach Pflege geben, umso attraktiver werde auch der Beruf dort, meinte
der liberale Politiker.
"Bei Opel in
Bochum macht man sich Sorgen, ob die Arbeitsplätze erhalten bleiben
können", sagte Bahr. "Wer sich entscheidet, Pfleger oder Arzt zu werden,
muss in den nächsten Jahrzehnten keine Angst haben, seinen Arbeitsplatz
zu verlieren." Viele Pfleger und Schwestern sagten ihm: "Das ist ein
toller Beruf, man hat mit Menschen zu tun und bekommt von den Patienten
eine Menge Dankbarkeit und Anerkennung zurück. Das bekommen Sie am
Fließband nicht."
Fehlanreize für Krankenhäuser
Bahr plant für
die nächste Legislaturperiode eine Reform der Krankenhäuser. "Wir wollen
nicht die Quantität fördern, sondern die Qualität", sagte Bahr. Schon
heute gebe es Informationsangebote, in welchen Krankenhäusern besonders
viele Komplikationen oder Infektionen auftreten. Bahr schlägt erneut
vor, Kassenpatienten von Zuzahlungen zu befreien, wenn sie in ein
Krankenhaus gehen, das von ihrer Kasse empfohlen wird. Bislang hat er
sich mit dieser Idee nicht gegen die Länder durchsetzen können.
Der
FDP-Politiker bekräftigt, dass er Fehlanreize beseitigen wolle, die
Krankenhäuser unter den Druck setzen, besonders oft zu operieren. Die
Zahl der Operationen ist in den letzten Jahren stark gestiegen. "Wir
können diesen Anstieg nicht allein mit der Demografie und dem
medizinischen Fortschritt erklären", sagte Bahr. "Wir wollen nicht, dass
etwas gemacht wird, das medizinisch gar nicht notwendig ist." Darauf
müssten sich die Patienten verlassen können. Kritiker monieren, viele
Kliniken drängten ihre Ärzte zwecks Umsatzsteigerung zu unnötigen
Eingriffen.
Die Kassen
führen den Anstieg der Operationen auch auf die große Zahl von Kliniken
zurück. Jüngst gab es Vorschläge aus der CDU/CSU, die Zahl der Kliniken
um eine Fünftel zu verringern. Dagegen erklärt Bahr: "Wir haben eine
hohe Krankenhausdichte. Aber das wünscht die Bevölkerung auch." Er wolle
keine Wartelisten-Medizin wie in anderen Ländern. "Dort gibt es weniger
Krankenhäuser und Operationen, aber eben lange Wartelisten." Jeder
müsse das bekommen, was notwendig sei.
"Aber das kann
wirtschaftlicher und effizienter gehen, etwa durch Spezialisierung." Es
müsse nicht in jedem Krankenhaus alles gemacht werden. In Deutschland
gibt es mehr als 2000 Kliniken. Für Investitionskosten und
Bedarfsplanung sind die Länder zuständig, der Betrieb wird von
Krankenkassen über Fallpauschalen finanziert. Da die Länder bei den
Investitionen sparen, müssen diese zunehmend aus dem Betrieb
erwirtschaftet werden. Auch damit erklären Kritiker den bemerkenswerten
Anstieg der Operationszahlen. Im vergangenen Jahr bekamen die Kliniken
von den Krankenkassen 62,5 Milliarden Euro.
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